T. Kühne u. C. Rauh-Kühne (Hg.): Raum

Titel
Raum und Geschichte. Regionale Traditionen und föderative Ordnungen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart


Herausgeber
Kühne, Thomas; Rauh-Kühne, Cornelia
Reihe
Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 40
Erschienen
Leinfelden-Echterdingen 2001: DRW-Verlag
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Prof. Dr. Jürgen John

Der Sammelband ist dem Tübinger Historiker Bernhard Mann zum 65. Geburtstag gewidmet. Auf dessen Forschungs- und Themenfelder von der preußischen Föderalismus- und Parlamentarismus- bis zur württembergischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des 19. Jahrhunderts beziehen sich Ober- und Untertitel des Bandes. In ihrer Allgemeinheit sagen sie freilich wenig über den Inhalt seiner Beiträge aus. Das ist bei solchen Festschriften oft der Fall. Vor allem dann, wenn sie - wie der hier zu rezensierende Band - recht verschiedenartige Texte versammeln. Ihnen werden dann gern möglichst grundsätzlich wirkende, aber wenig informative Titel vorangestellt. Der an bestimmten Sachthemen interessierte Fachhistoriker hat es bei so allgemein betitelten Sammelbänden stets schwer, sich ein Bild davon zu machen, was ihn tatsächlich erwartet. Und der Rezensent sucht vergebens nach einem die Einzeltexte verbindenden roten Faden.

So auch bei diesem Band mit seinen durchweg vorzüglichen und überwiegend von renommierten Historikern verfassten Einzeltexten. Das knappe Vorwort der Herausgeber gibt nur wenig Anhaltspunkte. Dort ist von verschiedenen Perspektiven auf die Kategorie "Raum" in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft die Rede, von den Auswirkungen sozial-räumlicher Differenzierungsprozesse auf historische Entwicklungen und vom Entstehen historischer Raumkonstrukte. Betont wird, daß soziale Akteure bewusst oder unbewusst Räume konstruieren. Das ist dank neuerer sozial- und kulturgeographischer Theorien und Forschungen nun weithin konsensfähig und wird nur noch von verbohrten Physiogeographen bestritten. All dem wird man ohne weiteres zustimmen können. Als Bindeglied für die dann folgenden, thematisch vielfältigen, zeitlich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert reichenden Einzeltexte taugen solch allgemeine Aussagen aber wenig. So bleibt dem Rezensenten nur die Möglichkeit, die 13 Sachtexte des vorliegenden Bandes und das beigefügte Interview kurz vorzustellen und nach ihrer zeitlichen, räumlichen und sachlichen Zuordnung zu fragen.

Die ersten beiden Beiträge behandeln die räumliche Ausdehnung der Reformation in (Nieder) Sachsen und die Probleme des schwäbisch-fränkischen Regionalbewusstseins vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Gabriele Haug-Moritz beschreibt den wettinisch-welfischen sächsischen Raum des 16. Jahrhunderts als ein "interterritoriales System", in dem die von Kursachsen ausgehende Reformation günstige Entfaltungsmöglichkeiten fand. Horst Carl nimmt die Intervention des Schwäbischen Bundes in Franken zum Ausgangspunkt, um dem differierenden historischen Regionalbewusstsein in dieser "schwäbisch-fränkischen Nachbarschaftsregion" und dem Wechsel vom Negativbild "fränkischer Raufbolde" zum positiven Frankenbewusstsein des 19. Jahrhunderts nachzugehen. Beide Texte machen auf ständisch-dynastische und regional-nachbarschaftliche räumliche Wahrnehmungsmuster aufmerksam und plädieren für eine auch regionale statt nur reichsfixierte Forschungsperspektive. Daran anschließend untersucht Ronald G. Asch die Rolle Irlands in der britischen "Glorious Revolution" und "composite monarchy" des ausgehenden 17. Jahrhunderts und die dortigen konfessionellen Eigenständigkeiten und Gegensätze.

Die folgenden drei Beiträge befassen sich mit dem baden-württembergischen Raum im 18./19. Jahrhundert: mit der Wirtschaftsgesinnung und Innovationsbereitschaft vor allem im Schwarzwald (Hans-Georg Wehling), mit der ambivalenten staatlichen Intervention in württembergischen Elendsgemeinden (Raimund Waibel) und mit Problemen württembergischer Staatsangehörigkeit (Hans-Otto Binder). Grundfragen deutscher Geschichte und der Zentralismus-Föderalismus-Problematik des 19./20. Jahrhunderts wendet sich Wolfram Siemann in einem knappen Essay zu. Er beschreibt den Deutschen Bund 1815/66 als Friedensordnung und als Gegenmodell nichtkriegerischer Nationsbildung zur späteren Bismarckschen Reichseinigung. Dieter Langewiesche analysiert mit einer parteipolitisch übergreifenden Presseschau die Jahrhundertwende-Bilanzen in Berlin (Reichsperspektive) und Stuttgart (Provinzperspektive), die - so sein Befund - eher von Zukunftshoffnungen als -ängsten gekennzeichnet waren. Cornelia Rauh-Kühne untersucht die soziale Praxis nationaler Identitätspolitik am Beispiel des 1870/71 okkupierten Grenz- und "Reichslandes" Elsaß-Lothringen. Die Gemengelage von "schmerzender Wunde" und Kulturaustauschzone dürfte - wie sie betont - für längere Zeit ein lohnendes Forschungsfeld darstellen.

Zwei weitere Beiträge thematisierten regionale Aspekte des Parteienwesens im 19./20. Jahrhundert. Jörg Krause untersucht die Erfolgsgeschichte der konservativ-antisemitischen Christlich-Sozialen Partei im ursprünglich liberal dominierten rheinland-westfälischen Wahlkreis Hagen-Schwelm 1896 bis 1914. Andreas Gawatz beschreibt das württembergische Parteiensystem von 1867 bis 1933 und hebt das Jahr 1890 als Epochenzäsur und organisatorisches take off hervor. Die letzten beiden Sachbeiträge befassen sich mit der Bundesrepublik und ihrer Vorgeschichte seit 1945/49. Anselm Doering-Manteuffel porträtiert den sozialdemokratischen Reutlinger Oberbürgermeister Oskar Kalbfell 1945 bis 1973. Gabriele Metzler geht auf die Möglichkeiten, Grenzen und Perspektiven des bundesdeutschen Föderalismus 1949 bis 2000 und auf seine unitarischen bzw. kooperativ-föderalistischen Entwicklungstendenzen ein.

Den Band beschließt ein Gespräch des Berliner Historikers Heinrich August Winkler mit Martin Deorry zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Unter der Maxime "Historiker müssen Mythen zerstören" erteilt Winkler hier - gleichsam als Quintessenz seiner zweibändigen deutschen Geschichte "Der lange Weg nach Westen" - dem Reichsmythos der Rechten und dem Revolutionsmythos der Linken eine klare Absage. Beiden "Irrwegen deutscher Geschichte" stellt er den Europa-Gedanken als positiven Ausweg entgegen, freilich recht affirmativ und ohne zu bedenken, dass so ein neuer Mythos an die Stelle der verworfenen Mythen treten könnte.

Alles in allem präsentiert der Sammelband ein facettenreiches, zeitlich, sachlich und thematisch weitgreifendes Spektrum durchweg interessanter Einzelbeiträge. Es lässt sich aber kaum auf die im Ober- und Untertitel ausgewiesenen Begriffe als roten Faden festlegen. Von definierten Räumen und Regionen handeln zwar die meisten Beiträge, in der Summe aber additiv und mit deutlicher Dominanz von Württemberg. Föderative Ordnungen thematisieren nur zwei Beiträge. Die mit Parteienwesen und Kommunalpolitik befassten Texte fallen völlig aus dem vorgegebenen begrifflichen Rahmen. Zeitlich liegt der Schwerpunkt der Beiträge dieses Sammelbandes im 19./20. Jahrhundert. Eine Langzeitperspektive wählen nur der Essay von Siemann und das Interview mit Winkler. Gemessen an den grundsätzlich-begrifflichen Ansprüchen des Bandes, wirkt das Ensemble seiner Einzelbeiträge doch recht zufällig und defizitär.

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